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Eine große Überforderung

The Vortex: Herr Schmid, Ihr neuer Film „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ behandelt die Reemtsma-Entführung in Hamburg im Jahr 1996 aus der Sicht der Angehörigen. Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen und wie sind Sie an die Umsetzung herangegangen?

Adina Vetter und Claude Heinrich spielen die Angehörigen Johann Scheerer und Ann Kathrin Scheerer. ©Pandora Film

Hans-Christian Schmid: Die Verfilmung basiert auf der Autobiographie des Reemtsma-Sohnes Johann Scheerer. Vor der Veröffentlichung des Buches wäre ich sicherlich nicht auf die Idee gekommen diese Entführungsgeschichte zu erzählen, da ich das Geschehen nur am Rande miterlebt hatte und mich auch nur dunkel erinnern konnte. Letztlich kam der Impuls von meinem Co-Drehbuchautor Michael Gutmann der gesehen hat, dass es sich um eine interessante Familiengeschichte handelt. Man hätte den Fall auch wie einen Genrefilm, als Krimi, erzählen können, aber wir fokussierten uns auf die Perspektive des Sohnes Johann Scheerer und die der Mutter. Was es dann genau ist, was so eine Entscheidung ausmacht und warum ich mich mit einer Geschichte beschäftige, finde ich oft auch erst im Verlauf des Drehbuchschreibens heraus, wenn ich eine klare Vorstellung vom eigentlichen Kern der Geschichte habe.

Wie echt wollten Sie das Geschehen erzählen?

Ich habe ja schon öfter Geschichten nach wahren Begebenheiten erzählt. Mir fällt der Einstieg meist leicht, denn es gibt Interviewpartner und Material, auf das ich aufbauen kann. Zunächst sammeln wir dieses, aber dann kommt die komplizierte Phase, in der man sich entscheiden muss, Zusammenhänge und Ereignisse obwohl sie recherchiert sind, wegzulassen und sich davon zu lösen. Man will einen Kinofilm erzählen, der zwei Stunden dauert und kann nicht 33 Tage in ihrer Komplexität wiedergeben. Das ist die eigentliche Herausforderung. Man muss sich trauen eigene Szenen zu schreiben und diese dann denjenigen zu zeigen, die es so nicht erlebt haben und da um Verständnis bitten.

Das spricht man dann schon mit den Beteiligten ab, bzw. muss man auch? Das erfordert ja ein sensibles Vorgehen.

Wenn Johann gesagt hätte, das hat so nichts mit uns zu tun, hätte man das berücksichtigen müssen. Es gab ein Vetorecht bis zur zweiten Treatmentfassung. Dabei hätten beide Seiten Unstimmigkeiten erkennen können. Das war aber nicht der Fall. Danach hätte es theoretisch diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Ich hätte mir aber nicht vorstellen können, diese Geschichte an der Familie vorbei zu entwickeln. Außer den Scheerers, gab es noch den Anwalt, die Betreuer der Angehörigen und den Freund der Familie. Auch mit denen waren wir im Kontakt.

Mit all denen haben Sie regelmäßig gesprochen?

Ja sicher, denn es ging ja nicht nur darum, die verschiedenen Buchfassungen zu besprechen, sondern in den Gesprächen weitere Details zu erfahren. Johann hat dann irgendwann zu mir gesagt, niemand hat mit so vielen Leuten gesprochen wie wir. Ab einem gewissen Punkt fand ich das auch auffällig, dass über diese Geschichte nie mit allen Beteiligten geredet wurde.

„Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden.“ Johann Scheerer (Claude Heinrich) und seine Mutter (Adina Vetter) in der Verfilmung von Hans-Christian Schmid. ©Pandora Film

Mich interessiert sehr die weibliche Perspektive der Mutter von Johann, grandios gespielt von Adina Vetter und die Perspektive auf sie. Die männlichen Akteure, wie die Betreuer der Angehörigen und der Anwalt, kommen nicht besonders gut weg, wirken recht planlos und ungeschickt. Die ersten Versuche der Übergabe des Lösegeldes scheitern, Nichts scheint zu gelingen, die Polizei stellt sich stur. Manche Szenen sind fast schon komischer Natur. Die Mutter hingegen wirkt stark, klug und kontrolliert. Am Ende setzt sie sich durch und man spürt, wie wichtig sie für den Ausgang der Entführung ist. Wollten Sie hiermit auch auf eine männlich dominierte Welt der 90er Jahre aufmerksam machen?

Das war keine bewusste Entscheidung, es ergibt sich aus Johanns Buch und natürlich aus den realen Umständen. Vieles war in den 90ern anders als heute. Zum Beispiel dass die Polizei noch nicht daran gedacht hat, als Betreuer der Angehörigen auch eine Frau mitzuschicken. So würden sie es heute machen, haben sie uns gesagt. Die Polizei hat ja auch aus dem Fall gelernt. Auch die vermeintlich lustigen Szenen haben wir nicht erfunden. Johann und sein Betreuer waren tatsächlich auf dem Hamburger Dom am Schießstand und Frau Scheerer hat sich über ein Faxgerät echauffiert, das die Betreuer nicht bedienen konnten. Da kann ich gar nicht reklamieren, dass wir das erfunden hätten. Aber sicher, Frau Scheerer ist einerseits von viel „Mansplaining“ umgeben, andererseits war da auch eine große Überforderung aller Beteiligten spürbar.

Die Entführer schicken der Familie ein Foto auf dem Jan-Philipp Reemtsma gefesselt ist. ©Pandora Film

Der Anwalt Herr Schwenn tut einem am Ende eigentlich fast nur noch leid in der Situation, obwohl er Frau Scherer auch nicht wirklich respektiert.

Ja, den weisungsgebundenen Betreuern und vor allem Herrn Schwenn, der am Ende komplett an seine Grenzen geraten ist, halte ich trotz allem zugute, dass sie in einer extremen Ausnahmesituation waren. Das Interessante an den Figuren ist, dass sie ambivalent sind. Sie können einem auf der einen Seite leid tun, gleichzeitig kann man Ihnen aber auch ihr Agieren und ihr Fehlverhalten vorwerfen. Herr Schwenn mag ein sehr wacher Geist sein, ein brillanter Verteidiger vor Gericht, aber ein Auto voller Geld zu den Entführern zu fahren, ist eine ganz andere Aufgabe.

Die Betreuer der Angehörigen, der Anwalt (Justus von Dohnányi) und ein Freund der Familie (Hans Löw) verbringen viel Zeit wartend mit den Angehörigen. ©Pandora Film

Was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, so haben die beiden gerade eine eher schwierige Phase miteinander. Johann ist in der Pubertät das ist nachvollziehbar, aber der intellektuelle Anspruch des Vaters an den Sohn ist doch sehr hoch, er wehrt sich. Man hat das Gefühl er versucht in der Zeit der Abwesenheit des Vaters durchaus mit anderen Bezugspersonen in seinem Leben gewisse Grade an Männlichkeit auszuloten, wie zum Beispiel mit dem Freund der Familie?

In Johanns Buch gibt es eine Szene, da steht sein Vater neben ihm in der Schlange am Skilift und zieht noch schnell ein Reclamheft aus dem Overall um darin zu lesen. Wie soll ich als 13-jähriger, denkt sich Johann, etwas zu bieten haben, das genauso interessant ist für ihn? Für ihn ist die Situation belastend, dass er sich mit seinem Vater gestritten hat und vielleicht nie mehr die Möglichkeit bekommt, das gerade zu rücken. Es ist eine klassische Coming-of-Age Erzählung. Erwachsen werden muss Johann innerhalb von vier Wochen und wird in diese Situation hineingeworfen. Eine Situation, die ihn überfordert und ihm völlig unbekannt ist. Zunächst beobachtet er viel und redet nicht. Das ist etwas, was ich an Claude Heinrich beim Casting auch beobachtet habe, dass er gar nicht viel geredet hat. Und so haben wir beim Schreiben gemerkt, dass es schwierig wird mit ihm als Hauptfigur, weil er nicht so eingebunden ist in all diese Prozesse. Schließlich kam Johanns Mutter mehr und mehr in diese Position. Im Film sind Gedankenspünge nicht so leicht umsetzbar wie im Buch, und so hat sich im Drehbuch die Perspektive auf Johanns Mutter erweitert.

Johann liest den Brief seines Vaters, den er in der Geiselnahme geschrieben hat. ©Pandora Film

Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist gut, wird in dieser Zeit allerdings auch auf die Probe gestellt. Die beiden müssen die Situation lösen, ihre Rollen auch miteinander finden. Die Familie scheint mir vor der Entführung etwas distanziert zueinander zu sein, jeder macht sein Ding. Am Ende könnte man sagen, wenn man es positiv sehen möchte, dass die Krise die Familie einander auch näher gebracht hat? Auch wenn man auf diese Erfahrung hätte verzichten können.

Wenn Johann danach gefragt wird, sagt er, dass das Ganze überhaupt nicht gut ausgegangen ist. Seine Mutter hat zwar erzählt, er habe in der Schule danach einen Sprung nach vorne gemacht, hätte sich nicht zurückgezogen, aber in der Familie wurde über das Trauma weitgehend geschwiegen.

Die Dreharbeiten wurden durch die Coronazeit etwas erschwert. Wie sind Sie damit umgegangen?

Es gab die gesetzlichen Vorgaben, an die wir uns gehalten haben. Dazu gehörte das Maskentragen und das Testen. Das ist natürlich ein zusätzlicher Aufwand für eine Produktionsfirma. Damals gab es bereits den Ausfallfonds. Also wusste man, dass ein Ausfall durch Corona kompensiert werden würde. Wir waren ja alle noch nicht geimpft und ich hatte die große Sorge, dass wir den Film gar nicht zu Ende drehen können. Es war klar, viele Szenen spielen an dem großen Esstisch mit allen Beteiligten, die auf die Anrufe der Entführer warten und mit Kamera, Maske, Regie und Ton, waren wir kaum weniger als 15 Leute im selben Raum. Wenn da immer wieder zu Ansteckungen gekommen wäre, hätten wir diesen Film nicht drehen können.

Gedreht wurde der Film u.a. an der Hamburger Elbe. ©Pandora Film

Wenn dann immer einer ausgefallen wäre, hätte sich das dann auch auf das Arbeiten und die Qualität des Filmes ausgewirkt?

Ja, das war schon belastend. Aber das ist zum Glück nicht passiert, und die positiven Tests, die wir an einem Tag hatten, waren dann wohl auch falsch positiv.

Hat sich Corona auf die Stimmung im Team ausgewirkt? Oder waren alle froh, dass sie arbeiten konnten?

Letztlich war ich froh, dass wir immerhin versuchen konnten, diesen Film zu machen. In anderen Bereichen des Kulturschaffens, etwa am Theater, wo das Publikum vor Ort ist, war ja alles geschlossen. Wenn die Pandemie einen positiven Effekt für uns hatte, dann dass wir durch den Lockdown spüren konnten, wie es sich anfühlt, in einem Haus aufeinander zu hocken, und dass es uns am Set ähnlich erging. Es gab zu der Zeit eine Ausgangssperre in Hamburg. Nach 21 Uhr durfte man sich nur noch mit Passierschein vom Drehort zum Hotel bewegen. Wenn ich Regie führe, versuche ich komplett fokussiert zu bleiben, und dann ist während der Dreharbeiten so etwas wie Ausgehen oder Kino eh nicht drin.

Hätten Sie anders gedreht wenn Corona nicht gewesen wäre?

Nein, das Drehbuch ist zum großen Teil vor dem ersten Lockdown entstanden. Es war immer klar, wir fokussieren uns auf das Haus als Hauptmotiv und dann gibt es ein paar Außenszenen, wie die Ausflüge von Johann und die Lösegeldübergabe. Diese Szenen wollten wir schon zeigen.

Die Filmmusik ist von The Notwist, wie kam es zu dieser erneuten Zusammenarbeit?

Das ist unsere vierte Zusammenarbeit. Ich finde die Musik von The Notwist toll, eher subtil im Klang, und schätze an ihnen den Ansatz, der nicht typisch ist für Filmkomponisten. Die schickten uns Stücke, von denen wir erstmal nicht wussten, wo die im Film hingehören sollten. Daraus entwickelte sich ein längerer Dialog, von Schnittfassung zu Schnittfassung. Die Band sieht sich nicht so sehr als Auftragsarbeiter, aber das macht auch den Reiz aus.

Hans-Christian Schmid, Regisseur und Drehbuchautor. ©Pandora Film

Herr Schmid, vielen Dank für das Gespräch!

Wir sind dann wohl die Angehörigen, Regie: Hans-Christian Schmid. Buch: Michael Gutmann, H.-Ch. Schmid. Kamera: Julian Krubasik. Schnitt: Hansjörg Weißbrich. Musik: The Notwist. Mit: Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw, Yorck Dippe, Enno Trebs, Fabian Hinrichs, Philipp Hauß. Pandora, 118 Minuten. Kinostart 3. November 2022.

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